Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim G20-Dialogforum mit Nichtregierungsorganisationen (C20) am 19. Juni 2017 in Hamburg
Liebe Vertreter der Stadt Hamburg,
liebe Gastgeber, Herr Bornhorst, Herr Stolper,
sehr geehrte Damen und Herren, die Sie heute die internationalen Nichtregierungsorganisationen vertreten,
liebe Gäste,
ich habe mich auf unser Gespräch sehr gefreut. Diese Veranstaltung der Zivilgesellschaft ist die einzige, die ich in Hamburg erlebe. Alle anderen haben in Berlin stattgefunden. Der G20-Gipfel rückt schon mit großen Schritten näher. In etwas mehr als zwei Wochen werden die Gipfelteilnehmer hier in Hamburg zusammenkommen.
Ich glaube, dass wir gerade auch in schwierigen internationalen Zeiten und in einem schwierigen internationalen Umfeld wie in diesem Jahr die Chance nutzen sollten, gemeinsame Interessen zu finden und durch gemeinsames Handeln weiterzukommen. Das ist allemal besser, als seine Möglichkeiten in nationalen Alleingängen zu suchen. Das sollte der Anspruch sein, mit dem wir uns treffen, wenngleich ich schwierige Diskussionen voraussehe. Das können Sie sich sicherlich vorstellen.
Für die Organisatoren, für die Sicherheitskräfte und nicht zuletzt für die Stadt und ihre Bürger wird dieses G20-Treffen eine Herausforderung sein. Das wissen wir. Deshalb will ich ausdrücklich sagen, dass ich dankbar dafür bin, dass so viele hart dafür arbeiten, dass es eine konstruktive, gute und sichere Veranstaltung wird. Ich weiß, dass die politische Agenda eines solchen Gipfels auch Kritiker hat. Das ist aus demokratischer Sicht – das will ich ausdrücklich sagen – auch gut so. Es versteht sich von selbst, dass friedliche Kritik grundgesetzlich geschützt ist. Aber ich betone: Es sollte auch friedliche Kritik sein. Dies als Vorbemerkung zu dem, was uns erwartet. – Sie dürfen klatschen; das ist nicht verboten. Das ist vielleicht auch eine Art Fächergeräusch, das an diesem warmen Tag auch gleich ein bisschen Kühlung mit sich bringt.
Ich freue mich nun sehr auf das Gespräch mit Ihnen. Denn eine engagierte Zivilgesellschaft sorgt für Diskussion und ist im Ergebnis immer ein Gewinn. Das zeichnet eine lebendige demokratische Kultur aus. Sie haben in den letzten zwei Tagen einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. Dafür möchte ich Ihnen schon jetzt, bevor Sie mir offiziell Ihre Stellungnahme übergeben, danken.
Wir erleben in jüngerer Zeit in zu vielen Ländern wieder verstärkt Tendenzen, sich abzuschotten, kritischen Dialog zu erschweren, ihn gar nicht erst zuzulassen oder ihn gar zu unterdrücken. Opfer einer solchen Entwicklung sind Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Opfer einer solchen Entwicklung sind die kulturelle Vielfalt und letztlich die Gestaltungskraft der gesamten Zivilgesellschaft.
Deshalb sage ich ganz deutlich: Wenn rechtsstaatliche Grundsätze missachtet werden, dann dürfen wir nicht darüber hinwegsehen. Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht, das in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verbrieft ist und natürlich auch zu unserem grundgesetzlichen Schutz gehört. Wir dürfen nicht ruhen, immer wieder deutlich zu machen, dass nur eine freie Zivilgesellschaft dauerhaftes Wohlergehen garantieren kann. Für diese Haltung werben wir auch während unserer G20-Präsidentschaft, die wir nun schon einige Monate innehaben.
Sie sehen an unserem Gespräch hier und auch am gesamten Dialogprozess mit der Wirtschaft, mit der Wissenschaft, mit Gewerkschaften, mit Frauen, mit Jugendlichen, dass damit immer auch lebendige Diskussionen verbunden sind, aus denen wir vieles für unseren G20-Prozess übernehmen können. Natürlich läuft parallel dazu der Austausch auf der Ebene der G20-Sherpas – also der offiziellen Vertreter der Regierungen, die unsere Themen den ganzen Weg bis zum Gipfel im Auge behalten und mit Blick auf die letzte Nacht vor dem Gipfel sicherlich noch sehr anstrengende Verhandlungen vor sich haben werden. Auch die Vertreter der deutschen NGO-Dachverbände hatten bereits Gelegenheit, bei Sherpa-Treffen in der Vorbereitung ihre Akzente zu setzen. Ich darf sagen, dass der Dialogprozess insgesamt bereits für wichtige inhaltliche Impulse gesorgt hat, die wir im Kreis der Staats- und Regierungschefs aufnehmen sollten.
In der G20 sind globale Wirtschaftsfragen immer das Kernthema. Im Mittelpunkt steht dabei nicht mehr, wie es früher landläufig der Fall war, einfach Wachstum, sondern es geht heute schon sehr viel stärker um nachhaltiges, inklusives Wachstum. Die Globalisierung ist ein Prozess, der für alle, die sich darauf einlassen, ein Gewinn sein kann. Das ist zumindest meine Haltung zur Globalisierung. Wir finden ja auch etliche Beispiele dafür, so in Asien, wo es gelungen ist, durch wirtschaftliche Öffnung und weltweiten Handel Armut zu verringern. So konnte auch das vormalige Millennium-Entwicklungsziel erreicht werden, das vorgesehen hatte, den Anteil der Menschen, die unter extremer Armut leiden, zu halbieren. Dieses Ziel haben wir nicht in Afrika erreicht, aber wir haben es durch die Entwicklung in Asien erreichen können.
Die G20 muss also die Vorteile eines regen, grenzüberschreitenden und fairen Handels anstelle protektionistischen Vorgehens betonen. Denn wer internationale Wertschöpfungsketten behindert oder gar durchtrennt, schadet letztlich allen, die daran beteiligt sind – auch sich selbst. Wir haben bereits in der G7 die internationalen Wertschöpfungsketten unter die Lupe genommen, da sie nicht per se gut sind, sondern in allen ihren Phasen gut gemacht werden müssen. Insoweit haben wir in der G7 einiges erreicht. In der G20 ist die Arbeit daran natürlich noch sehr viel schwieriger.
Das heißt also, wir erschließen uns nach unserer Überzeugung neue Perspektiven, wenn wir das multilaterale Handelssystem der Welthandelsorganisation unterstützen. Dieses multilaterale Handelssystem basiert auf gemeinsamen Regeln. Gemeinsame Regeln bedeuten, auch Standards für Arbeitnehmer- und Verbraucherschutz, für Klima- und Umweltschutz in den Blick zu nehmen und dementsprechend solche Regeln zu stärken. Das gilt für die G20-Staaten, aber auch für alle Partnerländer und für alle Standorte, wenn wir uns der Problematik der Gesamtlieferketten annehmen wollen. Ein besonderes Anliegen ist uns eine bessere Einbindung von Frauen in die Wirtschaftsprozesse und Unternehmertätigkeiten. Es geht vor allem um bessere Chancen der Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung, die dann auch die Akzeptanz gegenüber der Globalisierung erhöhen. Diese erhöhen zugleich die Akzeptanz von Foren wie der G20. Viele haben ja Sorge, dass all diese Themen dort keine Rolle spielen.
Angesichts einer immer engeren weltweiten Vernetzung halte ich die Arbeit von solchen Foren für wichtiger denn je. Denn eines ist klar: Globalisierung ist kein Schicksal, dem man tatenlos zusehen muss, sondern Globalisierung ist gestaltbar. Dabei geht es darum, sich abzustimmen. Wenn wir versuchen, gemeinsame Ziele zu verfolgen, nutzt das allen. Deshalb setzt sich Deutschland dafür ein, die internationale Zusammenarbeit zu stärken. Wir haben das auch mit dem Symbol für unsere G20-Präsidentschaft deutlich gemacht. Wir haben hierfür den Kreuzknoten gewählt, der nicht nur einen Bezug zur maritimen Stadt Hamburg herstellt, sondern der sich besonders bewährt und fest hält, wenn die Zugkräfte höher werden.
Es geht also darum, verschiedene Interessen zu bündeln, um Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu finden. Dazu gehört der Klimaschutz. Das Ziel lautet, so rasch wie möglich zu einem kohlenstoffarmen Wirtschaften überzugehen. Den Weg dorthin weisen uns das Pariser Abkommen und auch die Agenda 2030 – und ich sage: nach dem Ausstieg der USA aus dem Pariser Abkommen übrigens mehr denn je.
Eine weitere große Entwicklung unserer Zeit, die sich grenzüberschreitend durchsetzt, ist die Digitalisierung. Wir sprechen darüber, wie sich die Digitalisierung auf unser Leben, auf die Wirtschaft, auf die Arbeit auswirkt, aber auch darüber, wie wir weltweit die Teilhabe am digitalen Wandel erhöhen können, wie wir für den Schutz der Privatsphäre, des geistigen Eigentums eintreten können und wie wir für Cybersicherheit sorgen können. Es gab zur Vorbereitung des Gipfeltreffens auch ein Treffen der Digitalminister. Wir stehen noch ganz am Anfang, aber ich bin fest davon überzeugt, dass auch für dieses Themenfeld globale Regeln gefunden werden müssen und dass es nicht ausreicht, wenn jedes Land für sich allein Regeln setzt. Ich denke, die Europäische Union ist mit ihrer Datenschutz-Grundverordnung einen wichtigen Schritt vorausgegangen.
Wir haben ein Thema auf die Tagesordnung gesetzt, das mir auch sehr am Herzen liegt: die Frage, wie wir Gesundheitsrisiken besser vorbeugen, die unermessliches menschliches Leid auslösen und ganze Regionen wirtschaftlich zurückwerfen können. Dazu gehört es, die Gesundheitssysteme und die globale Gesundheitsarchitektur zu stärken. Dazu gehört auch, gegen Antibiotikaresistenzen vorzugehen. Wir werden uns auf dem Gipfel die Ergebnisse der ersten Gesundheitsministerkonferenz anschauen. Diese Konferenz der G20-Gesundheitsminister hat sich mit einem Reaktionssystem der Weltgemeinschaft auf entstehende Pandemien beschäftigt. Das ist eine sehr interessante Materie, bei der wir die multilateralen Organisationen, in diesem Fall die Weltgesundheitsorganisation und die Weltbank, stärken müssen.
Ein großer Schwerpunkt unserer Präsidentschaft ist die Entwicklung Afrikas. Erst vor einer Woche hat dazu in Berlin die G20-Afrikakonferenz stattgefunden. Wir sehen, dass die afrikanische Bevölkerung – in vielen Teilen jedenfalls – noch nicht ausreichend an den Entwicklungen der Welt teilnimmt. Wir haben uns deshalb angeschaut: Wie können wir – nicht als Ersatz für Entwicklungshilfe, aber zusätzlich – mehr private Investitionen anreizen?
Ich habe Ihr Kommuniqué gelesen. Wir kommen sicherlich in der Diskussion noch einmal darauf zu sprechen, dass Sie Befürchtungen artikuliert haben. Aber ich bin fest davon überzeugt: Wenn es heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Beendigung der Kolonialherrschaften, immer noch unzählige afrikanische Länder gibt, in denen die Stromversorgung der Bevölkerung nur bei 20 oder 25 Prozent liegt, dann können wir dort keine wirtschaftliche Entwicklung erwarten; dann können wir nicht erwarten, dass sich der Mittelstand dort entfalten kann. Deshalb müssen wir private Investitionen ermöglichen.
Darüber nachzudenken, war uns wichtig. Daher haben wir das Thema Compact – man höre – „with“ Africa, nicht „for“ Africa, auf die Tagesordnung gesetzt. Ich bin sehr froh, dass die Afrikanische Union mit ihrem Konzept Agenda 2063 zum allerersten Mal in der Geschichte einen eigenen Entwicklungsplan aufgestellt hat, an den wir anknüpfen können und nicht paternalistisch irgendwelche Projekte vorschlagen, die Afrika selbst gar nicht wichtig sind.
Insgesamt wollen wir also vom Gipfel in Hamburg das Signal aussenden, dass wir gemeinsam in der Lage sind, in globalen Dimensionen zu denken und im globalen Sinne zu handeln, damit alle etwas davon haben. Wir werden in den Bereichen Wirtschaft und Finanzmarktregulierung, den eigentlichen Kernthemen, allem entgegenarbeiten, das auf eine Veränderung im Sinne der Schwächung der Finanzmarktregulierung hinweist. Wir haben bezüglich der Regulierung der Schattenbanken noch einen ehrgeizigen Fahrplan abzuarbeiten. Das ist ein sehr wichtiges Thema. Auch darauf werden wir achten.
Die Botschaft lautet kurzgefasst also: Die G20 übernimmt erstens Verantwortung für das Leben heute – in Partnerschaft mit Afrika, in der Bekämpfung von Fluchtursachen, im Kampf gegen Terrorismus und Korruption und im unablässigen Bemühen um Ernährungssicherung und Entwicklung. Die G20 übernimmt zweitens auch Verantwortung für die Welt von morgen und übermorgen – durch Klimaschutz, durch die Umsetzung der so wichtigen Agenda 2030, durch die Gestaltung der Digitalisierung und die Stärkung der globalen Gesundheit.
Das sagt sich so leicht; das ist aber nicht ganz so einfach. Es gibt viele Widerstände, es gibt große Erwartungen. Oft läuft die Entwicklung in kleinsten Schritten. Manchmal müssen auch einige vorausgehen. Deshalb bin ich sehr dankbar dafür, dass wir eine starke Zivilgesellschaft hinter uns haben – manchmal auch konstruktiv gegen uns, damit wir nachdenken müssen. Aber ich glaube, mit Blick auf die großen Ziele sind wir uns doch einig in der Überzeugung, dass sich Globalisierung menschlich gestalten lässt und sie nicht zu mehr Ungerechtigkeit und Ungleichheit führen darf.
Das wollte ich Ihnen zum Einstieg sagen. Nun freue ich mich auf die Diskussion, in der Sie mich auf Herz und Nieren prüfen können, wie ernst uns das ist. Herzlichen Dank.