Im Wortlaut: Merkel
Alle sollen von Wachstum profitieren
Ob Klimawandel, Afrika oder globale Gesundheitsgefahren: "Wir müssen jetzt reagieren, um langfristigen Folgen vorzubeugen", so die Kanzlerin im Interview vor Beginn des G20-Gipfels. Wichtig sei ihr als Vertreterin des Landes der sozialen Marktwirtschaft, dass nicht nur wenige, sondern alle von wirtschaftlichen Fortschritten profitieren.
Das Interview im Wortlaut:
DIE ZEIT: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, die Vorbereitung des G20-Gipfels komme Ihnen vor, als müssten Sie einen Sack Flöhe hüten.
Angela Merkel: Habe ich das gesagt?
ZEIT: Ja, Anfang Mai bei einer Konferenz von Wirtschaftsvertretern in Berlin. Jetzt, kurz vor Beginn, würden Sie sagen, es ist besser geworden? Haben Sie den Flöhen Unrecht getan?
Merkel: Jetzt ist es die Quadratur des Kreises (lacht). Nein, es bleibt sehr anspruchsvoll. Das ist bei der politischen Vielfalt im Kreis der G20 schon von Haus aus so. Hinzu kommt nun zum Beispiel, dass die Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Pariser Klimaabkommen austreten wollen. Aber die G20 verhandelt nicht erst am Konferenztisch der Staats- und Regierungschefs, sondern das machen schon monatelang vorher die Sherpas, und am Ende muss im Konsens verabschiedet werden oder es kann so nicht verabschiedet werden.
ZEIT: Was wäre denn ein gutes Ergebnis?
Merkel: Eines, das zeigt, dass wir uns angemessen mit den globalen Herausforderungen befassen, und das zugleich Dissens nicht übertüncht. Das Klimaschutzabkommen zum Beispiel ist eigentlich keine wirkliche G20-Materie, sondern ein UN-Prozess. Trotzdem haben wir bei den vergangenen G20-Gipfeln dazu immer gemeinsam Stellung genommen, und schon deswegen wird das Thema eine Rolle spielen. Es ist und bleibt natürlich außerordentlich bedauerlich, dass die USA das Pariser Abkommen verlassen wollen, aber es gibt auch sehr viele US-Bundesstaaten und -Städte, die weiter mitmachen. Außerdem geht es um ein sehr langfristig wirkendes Abkommen, das auf das ganze Jahrhundert angelegt ist. Beim Klimawandel gilt wie auch bei den Themen Afrika oder globale Gesundheitsgefahren: Wir müssen jetzt reagieren, um langfristigen Folgen vorzubeugen.
ZEIT: Die Weltöffentlichkeit wird angesichts einer aus den Fugen geratenen Weltordnung aber auch auf andere Fragen schauen: Gibt es den Westen noch? Tut sich Europa in Handelsfragen mit China zusammen? Welche Prinzipien gelten eigentlich Unilateralismus, Multilateralismus, Multipolarität? Was ist da Ihre Botschaft?
Merkel: Die Tatsache, dass 20 Länder plus die EU plus die internationalen Organisationen plus asiatische und afrikanische Regionalorganisationen dabei sind und dass diese Länder alle in einem Prozess permanenter Beratung und Zusammenarbeit engagiert sind, ist in einer Zeit, in der viel Sprachlosigkeit herrscht, schon ein Wert an sich. Es ist wahr, die Weltordnung ist im Wandel, und die Kräfteverhältnis verschieben sich. Das hat mit dem Aufstieg Chinas zu tun, aber auch Indien macht mit Wachstumsraten von über sieben Prozent, die noch über den chinesischen liegen, große Schritte. Beide Länder haben um die 1,3 Milliarden Einwohner, das sind einfach bedeutende Faktoren. Hinzu kommt, dass die amerikanische Administration und mit ihr Präsident Trump die Globalisierung anders bewerten als wir in Deutschland. Während wir Möglichkeiten der Zusammenarbeit zum allseitigen Nutzen suchen, wird die Globalisierung in der amerikanischen Administration eher als ein Prozess gesehen, in dem es nicht um Win-win-Situationen, sondern um Gewinner und Verlierer geht.
ZEIT: Trumps Sicherheitsberater H. R. McMaster betrachtet die Welt als eine Arena, an eine globale Gemeinschaft glaubt er hingegen nicht.
Merkel: Das widerspricht völlig meiner Sicht. Die G20 selbst ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Welt durch internationale Zusammenarbeit aus der internationalen Finanzkrise 2008/09 herausgekommen ist. Das war für alle ein Gewinn. Präsident Trump wurde sicher von vielen gewählt, die die Globalisierung skeptisch sehen, und er fühlt sich diesen Wählern verpflichtet. Aber IWF, OECD, auch die G20 sprechen schon lange nicht mehr nur einfach von Wachstum, sondern von inklusivem und nachhaltigem Wachstum. Wir wollen nicht, dass nur wenige von wirtschaftlichen Fortschritten profitieren. Alle sollen teilhaben. Als Vertreterin des Landes der sozialen Marktwirtschaft will ich die G20-Beratungen auch in genau diesem Geist führen. Deshalb habe ich vorab alle europäischen G20-Teilnehmer nach Berlin eingeladen, also Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Norwegen und die Niederlande sowie die EU-Institutionen. Wir vertreten dieselben Überzeugungen und werden sie auf dem Gipfel einbringen.
ZEIT: Das heißt, Sie wollen, dass Europa einheitlich auftritt?
Merkel: Ja, es ist sinnvoll, dass Europa seine Kräfte bündelt.
ZEIT: Glauben Sie denn, dass der Westen insgesamt noch einheitlich auftreten kann?
Merkel: In manchen Fragen ja, in manchen Fragen nein.
ZEIT: Also nein! Es war schon mal mehr Westen, oder?
Merkel: Nein, so habe ich es gerade nicht formuliert. Abgesehen davon war schon einmal mehr Einigkeit, es gab ein gemeinsames Bild von der Welt. Das ist derzeit nicht überall der Fall. Das heißt aber auch nicht, dass wir nicht auf einigen Gebieten zu Gemeinsamkeiten kommen können.
ZEIT: Geht damit ein machtpolitischer Bedeutungsverlust der USA einher?
Merkel: Das weiß ich nicht. Machtpolitische Bedeutung erwächst aus wirtschaftlicher, militärischer und zivilisatorischer Stärke und auf allen drei Gebieten sind die Amerikaner immer noch Weltmacht, wie ja auch heftige inneramerikanische Debatten zeigen. Offenbar will die amerikanische Administration aber nicht mehr per se die Ordnungsmacht für alle Regionen der Welt sein. Das kann man ja sowohl als gute als auch als weniger gute Nachricht empfinden, je nach Thema. Im Übrigen: Wo immer die Amerikaner in den letzten Jahrzehnten als Ordnungsmacht aufgetreten sind, ist das vorsichtig ausgedrückt - durchaus auch sehr kritisch begleitet worden.
ZEIT: Die USA hinterlassen aber eine beträchtliche Lücke, oder?
Merkel: Ja, das ist in der Tat eine große Herausforderung. Wenn die Amerikaner zum Beispiel von einem Tag auf den anderen sagten, dass sie sich an dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht mehr beteiligten, wäre das extrem schwierig. Es bleibt dabei, dass wir ein gemeinsames Interesse an Sicherheit und Frieden haben und daher auch gemeinsame Ziele verfolgen sollten.
ZEIT: Nach der Rückkehr von dem in vielerlei Hinsicht enttäuschenden G7-Gipfel auf Sizilien haben Sie versucht, den Europäern neuen Mut zu machen. Sie haben das in einem Bierzelt in Trudering mit den Worten getan: Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei, das habe ich in den letzten Tagen erlebt. Würden Sie diesen Satz genauso wiederholen?
Merkel: Ja, genauso. Es ist zum Beispiel offen, ob wir uns in Zukunft noch darauf verlassen können und sollten, dass die USA so viel wie bisher in die Arbeit der Vereinten Nationen investieren, in die Nahostpolitik, in die europäische Sicherheitspolitik oder in die Friedensmissionen in Afrika. Wenn das alles wegfiele, würde noch klarer, wie wichtig es ist, mit Afrika, dem Nachbarkontinent von Europa, eine neue Partnerschaft zu schließen. Das ist in unserem Interesse und unsere europäische Verpflichtung.
ZEIT: Warum sollen die Amerikaner, die ein ungefähr gleich großes Bruttoinlandsprodukt haben wie die EU, sich überhaupt so stark engagieren in unseren östlichen und südlichen Nachbarschaftskonflikten? Wieso sollten die Europäer darauf einen Anspruch haben?
Merkel: Wir haben uns offenbar an dieses Engagement gewöhnt, weil wir die Amerikaner aus der Zeit des Kalten Krieges als eine große Ordnungsmacht gegenüber der damaligen Sowjetunion kannten und auch davon ausgingen, dass sie diese Rolle wollen. Nach dem Fall der Mauer sah es eine Zeit lang so aus, dass sie die einzige verbliebene Großmacht sind. Heute ist die Welt multipolarer. Aber Sie haben recht: Gleichsam einen Rechtsanspruch darauf, dass die Amerikaner sich überall auf der Welt engagieren, haben wir wirklich nicht. Die USA werden sich vermutlich nicht in dem Maße, wie es notwendig wäre, in Afrika engagieren, zumal sie im afrikanischen und arabischen Raum kaum noch Ölinteressen haben. Alleine dieser Umstand verändert die Situation gravierend.
ZEIT: Was sollten die Europäer konkret anfassen, damit sie sich auf sich selbst verlassen können?
Merkel: Wir haben eine Reihe von Aufgaben, an denen wir arbeiten müssen: den Schutz unserer Außengrenzen, ein europäisches Ein- und Ausreiseregister, einen eigenen Nachrichtendienst, um nur wenige Beispiele zu nennen. Wir müssen aber auch bei der Energiepolitik oder beim Klimaschutz zulegen.
ZEIT: Meinen Sie damit auch ein gemeinsames Budget für die Länder der Euro-Zone oder einen europäischen Finanzminister, wie es sich der französische Präsident Emmanuel Macron wünscht?
Merkel: Ja, ich meine auch Maßnahmen zur Stärkung unserer gemeinsamen Währung und die notwendige Weiterentwicklung der Euro-Zone sowie des Binnenmarkts, gerade des digitalen. Brauchen wir so etwas wie eine Wirtschaftsregierung? Ich bin durchaus dafür. Einen europäischen Finanzminister? Auch dazu grundsätzlich ja, denn das sind zwei wichtige Gedanken. Aber zu beiden Gedanken sind dann auch die praktischen Fragen zu beantworten, also wie die Konstruktion sein soll, ob das ein hauptamtlicher Euro-Gruppen-Vorsitzender wäre und vieles mehr. Es gibt da sehr unterschiedliche Vorstellungen in Europa. Wenn es eine gemeinsame Rechtsgrundlage gibt, kann auch ich mir sehr vieles vorstellen. Über all diese Fragen werden Emmanuel Macron und ich sprechen und im größeren Rahmen im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Europäischen Union beraten. Dabei müssen wir uns immer daran erinnern, worum es geht, wenn wir sagen, dass Europa sein Schicksal selbst in die Hand nehmen soll, nämlich darum, dass wir unsere euroeuropäischen Werte und Interessen behaupten und in unseren Mitgliedsländern Wohlstand und neue Arbeitsplätze schaffen.
ZEIT: Hätten Sie sich vor einem Jahr vorstellen können, dass es in Hamburg zu einem Treffen kommen könnte mit Putin, einem Präsidenten Trump und dem Erdogan, wie wir ihn jetzt nach dem Putsch erleben?
Merkel: Egal, was ich mir vor einem Jahr hätte vorstellen können wir müssen die Konstellationen nehmen, wie sie sind. Ich habe die Aufgabe, als G20 -Präsidentin Einigungsmöglichkeiten zu erarbeiten und nicht dazu beizutragen, dass Gesprächslosigkeit herrscht. Gleichzeitig dürfen die Differenzen nicht unter den Tisch gekehrt werden. Das alles ist die Aufgabe, die es zu lösen gilt.
ZEIT: G20 ist aber nicht nur ein Weltereignis, es findet auch auf einer Bühne statt, die uns bei der ZEIT sehr nahe ist, nämlich in Hamburg. Fürchten Sie wie viele Hamburger gewalttätige Demonstrationen?
Merkel: Ich bin überzeugt: Deutschland muss für ein so wichtiges globales Forum Gastgeber sein können. Schließlich verbinden sich damit auch Chancen, Themen zu setzen, Projekte voranzutreiben, Globalisierung zu gestalten. Immer nur theoretisieren, das geht nicht. Außerdem muss ein G20 -Gipfel mit seinen zahlreichen Delegationen und den Tausenden von Journalisten wegen der Hotelkapazitäten und der benötigten Infrastruktur in einem Ballungsgebiet stattfinden. Das ist, anders als G7, auf dem Land nicht so gut zu machen. Und was London, St. Petersburg, Toronto, Seoul oder Brisbane konnten, sollte in Hamburg auch möglich sein.
ZEIT: Und warum gerade Hamburg?
Merkel: Es gibt nicht viele Städte in Deutschland, die dafür infrage kommen. Ich finde es sehr respektabel, dass Olaf Scholz, der mit Hamburg eine Weltmetropole repräsentiert, sich dazu bekennt, dass wir in der Lage sein müssen, solche Veranstaltungen zu organisieren.
ZEIT: Das werden die Hamburger jetzt sehr gern hören, dass sie eine Weltmetropole sind!
Merkel: Hamburg hat einen der weltweit wichtigsten Häfen, es ist ein Riesenumschlagplatz für Produkte aus aller Welt, und es ist schließlich aus langer Tradition eine weltoffene Stadt und möchte das auch bleiben. Hamburg gehört zu den Städten, die sich ambitionierte Projekte zugetraut haben: die Hafen City, die Elbphilharmonie, alles, worauf man stolz sein kann und was Identität schafft.
ZEIT: Verstehen Sie denn trotzdem die Ängste, die es vor G20 in der Stadt eben auch gibt?
Merkel: Ich weiß natürlich, dass G20 den Hamburgern etwas zumutet, weil das Ereignis von kreisenden Hubschraubern bis zu Sperrungen und sonstigen Einschränkungen alltägliche Abläufe in Teilen der Stadt beeinträchtigen wird. Ich kann deshalb nur um Verständnis bitten.
ZEIT: Und die Gewalt?
Merkel: Es gibt keine Rechtfertigung für gewalttätigen Protest, und ich bin sicher, dass die Polizei alles tun wird, um das auch zu unterbinden. Vor den friedlichen Demonstranten habe ich Respekt, sie nehmen ihr demokratisches Grundrecht wahr. Wer gewalttätig wird, der verhöhnt die Demokratie.
ZEIT: 200 Berliner Polizisten mussten schon mal heimgeschickt werden, weil sie sich danebenbenommen haben.
Merkel: Das war natürlich gar nicht gut.
ZEIT: Wir werden zeitgleich mit Ihrem Interview auch ein Gespräch mit Recep Tayyip Erdogan veröffentlichen. Gibt es eine Botschaft an ihn, die Ihnen am Herzen liegt?
Merkel: Mir liegt unser gutes Zusammenleben mit türkischstämmigen Menschen hier in Deutschland sehr am Herzen. Für Millionen von ihnen ist Deutschland ein Zuhause, und sie sollen hier Chancen haben wie alle anderen auch. Ebenso wünsche ich mir vernünftige Beziehungen zur Türkei, auch wenn ich weiß, dass die Probleme sich derzeit auftürmen und wir vieles ganz anders sehen als Präsident Erdogan und seine Regierung. Ich bin bereit, immer wieder aufeinander zuzugehen. Als deutsche Bundeskanzlerin werde ich deswegen aber nicht darauf verzichten, die Freilassung von Deniz Yücel und anderen Journalisten zu fordern, im Gegenteil.
ZEIT: Hat es Sie in den vergangenen Wochen belastet, dass Sie nolens volens beigetragen haben zu der Verbitterung Helmut Kohls in seinen letzten Lebensjahren?
Merkel: Ich achte und ehre Helmut Kohl für seine überragend große Lebensleistung. Er hat auch mir persönlich viele Chancen gegeben. Alles andere tritt dahinter zurück, so wie ich' es am Samstag bei dem überaus bewegenden und beeindruckenden europäischen Trauerakt in Straßburg gesagt habe.
Die Fragen stellten Giovanni di Lorenzo und Bernd Ulrich für DIE Zeit.