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Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des G20-Dialogforums Gewerkschaften (L 20) am 17. Mai 2017 in Berlin

Anfang 17.05.2017

Sehr geehrter Herr Hoffmann,
sehr geehrte Frau Burrow,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der internationalen Gewerkschaftsverbände und der Gewerkschaften der Mitgliedstaaten der G20-Gruppe,
meine Damen und Herren,

ich freue mich, dass Sie heute hier in der Friedrich-Ebert-Stiftung zusammengekommen sind und gestern auch schon an dem Thema gearbeitet haben. Uns ist es als diesjährigem G20-Gastgeber sehr wichtig, die Zivilgesellschaft möglichst breit in die Vorbereitungen einzubeziehen. Wir glauben, dass unsere gesamte Diskussion mit den politischen Vertretern der G20 dadurch bereichert wird,
dass wir auch von Ihnen Empfehlungen bekommen, dass das Ergebnis Ihrer Arbeiten einfließt, dass damit auch diejenigen, die ja, wie man sagen muss, Milliarden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der G20 repräsentieren, indirekt mit am Tisch sitzen und dass wir Ihre Themen nicht einfach wegdrücken können, sondern dass Sie bei uns Platz finden.

Natürlich sind G7 und G20 unterschiedliche Formate. Aber wir glauben, dass auch in der G20 – hier unter den Gewerkschaften – einheitliche Forderungen herauskristallisiert werden können, wenngleich die jeweiligen Lebenssituationen und politischen Systeme in hohem Maße unterschiedlich sind. Sie verkörpern als Gewerkschaften eine Gruppe, die auch weiß, wie wichtig es ist, zusammenzustehen, wenn man bestimmte Forderungen durchsetzen will. Wir wissen ja inzwischen auch – damit begann ja überhaupt erst die Entstehungsgeschichte der G20 –, dass das, was in einem Land passiert, zum Schluss uns alle auf der Welt beeinflussen kann, dass Entwicklungen eng zusammenhängen und dass wir durch Zusammenarbeit stärker sind.

Wir werden ja in Hamburg tagen. Wir haben uns überlegt, dass wir einen Schifffahrtsknoten als Symbol nehmen. Das ist der sogenannte Kreuzknoten. Je mehr man an ihm zieht, umso fester wird er; das ist das Schöne an diesem Knoten. Wir glauben eben, dass die vernetzte Welt auch dann kräftig zusammenhalten muss, wenn verschiedene Kräfte am Knoten ziehen.

Ich freue mich – ich sehe die Vorsitzende des Deutschen Frauenrates –, dass Sie das, was bei den Frauen diskutiert wurde, aufgenommen haben und dass Sie kooperieren. So wie es in Deutschland eine umfassende Sozialpartnerschaft zwischen Wirtschaft und Gewerkschaften gibt, so gibt es eben auch viele Anliegen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die insbesondere mit Frauen zu tun haben. Deshalb ergibt sich aus den jeweiligen zivilgesellschaftlichen Veranstaltungen wieder eine eigenständige Vernetzung der Interessen; und das ist auch gut.

Sie haben natürlich das Thema Arbeit im Fokus: Arbeitsbedingungen, Arbeitsmöglichkeiten. Mit der Arbeit sind ja elementare Fragen verbunden. Reicht der Lohn, um eine Familie zu ernähren? Ist es möglich, dass ich den Anforderungen, die im Unternehmen an mich gestellt werden, gerecht werde? Machen die Digitalisierung, die Modernisierung oder die Innovation vielleicht meinen Arbeitsplatz überflüssig? Oder: habe ich überhaupt einen Arbeitsplatz? Wie ist es – auch das ist ja ein ganz wichtiges Thema – mit den Umwelt- und Sicherheitsvorschriften?

Deshalb geht es innerhalb der G20 seit jeher um das Engagement für stetiges und möglichst nachhaltiges Wachstum. „Inclusive growth“ – also inklusives Wachstum – gewinnt auch in der politischen Diskussion an Bedeutung. Das ist gut und richtig. Denn ohnehin ist die G20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs, wie gesagt, überhaupt erst aus einer Krise entstanden – nämlich aus der von Herrn Hoffmann schon genannten internationalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, die uns gezeigt hat: nur gemeinsam können wir diese Krise bewältigen. Auch wenn diese Krise wesentlich von den Vereinigten Staaten von Amerika und dem angelsächsischen Finanzraum ausgegangen ist, haben sich zum Schluss alle an der Bewältigung dieser Krise beteiligt; und das war auch richtig so.

Deshalb ist unser Grunddenken auch ein Denken gegen Abschottung – der Glaube daran, dass Globalisierung gemeinsam gestaltet werden kann, aber auch die feste Überzeugung, dass es bei der Gestaltung der Globalisierung um Menschen geht und dass die Lebenschancen der Menschen verbessert werden müssen, nicht nur sozusagen die Gewinne auf den Finanzmärkten oder die Gewinne Einzelner.

Wir haben das Motto „Eine vernetzte Welt gestalten“ gewählt. Diesbezüglich sind ein Thema, das wir schon im Kreis der G7 behandelt haben, die globalen Lieferketten. Sie stehen geradezu exemplarisch für die vernetzte Welt. Nach Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation – Herr Ryder von der ILO war ja bei Ihnen – stehen etwa 450 Millionen Arbeitsplätze direkt oder zumindest indirekt im Zusammenhang mit globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten. Beginnend bei der Rohstoffgewinnung durchläuft ein Vorprodukt die Hände vieler Arbeitskräfte in verschiedenen Ländern, bevor zum Schluss ein verkaufbares Produkt entsteht. Wer also solche Wertschöpfungsketten behindert oder gar durchtrennt, wer auf Abschottung und Protektionismus setzt, der schadet allen Beteiligten.

Wir haben in aktuellen politischen Verhandlungen eine sehr spannende Diskussion darüber, was Protektionismus eigentlich ist. Wir verwenden diesen Begriff immer in einem bestimmten Sinne. Was aber bedeutet er? Wo muss man sich schützen und auf Reziprozität achten? Es kann ja nicht sein, dass die einen sich zu vollkommener Offenheit bekennen und andere sich abschotten.

Das heißt also, wir müssen Chancen suchen, um umfassende und regelbasierte Erleichterungen des Handels zu finden – vorzugsweise im Rahmen von multilateralen Abkommen. Wir müssen aber auch sehen, dass es inzwischen eine Vielzahl bilateraler Abkommen gibt. Wir wissen, dass es insbesondere kleine und mittlere Unternehmen zum Teil ziemlich schwer haben, auf globalen Märkten überhaupt Fuß zu fassen, auch weil es sehr unterschiedliche Regeln gibt. Das sage ich ganz besonders mit Blick auf Betriebe in Entwicklungs- und Schwellenländern. Sie haben oft hohe Handelsschranken zu überwinden.

Wir haben zum Beispiel heute im Kabinett über Staaten Afrikas gesprochen, die eine mittlere Entwicklung nehmen und denen zum Beispiel unsere europäischen Märkte nicht so offenstehen, wie es fairerweise vielleicht der Fall sein müsste. Auf der anderen Seite wissen wir: die Arbeitslosigkeit ist auch in Europa hoch. Ehe man Handelsbarrieren einreißt, muss man auch zu Hause die Diskussion führen, wie weit ich mich und unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schützen muss. Hierbei einen fairen Ausgleich zu finden, ist oft gar nicht einfach.

Wir haben in einer auch in Deutschland sehr intensiven Diskussion über das EU-Kanada-Handelsabkommen gesehen, dass moderne Handelsabkommen mehr als der Abbau von Zollschranken bedeuten müssen, dass wir im Grunde auch Sozial-, Umwelt- und Verbraucherstandards mit einbeziehen müssen. Wir wollen auch Streitschlichtungsinstitutionen, die transparent sind und nachvollziehbar Streit schlichten können.

Hierbei kommen wir natürlich an einen Punkt, der in Bezug auf die G20 noch sehr viel schwieriger ist: Die einen sind recht hoch entwickelt, haben zum Teil auch sehr hohe Standards und andere kämpfen noch um die Mindeststandards. Wie können wir sagen, was angemessene Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Ländern dieser Erde sind? Das ist nicht leicht zu beantworten. Gerade im Rahmen der G20 zeigt sich eine große Unterschiedlichkeit.

Es ist nicht nur sinnvoll, sondern es ist unabdingbar, dass, wenn wir es mit Artikel 1 unseres deutschen Grundgesetzes ernst meinen, menschenwürdige Arbeitsbedingungen überall dazugehören. Deshalb machen wir uns für die Umsetzung internationaler Rahmenwerke stark – so zum Beispiel für die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte. Zu deren Umsetzung haben wir auch in Deutschland einen nationalen Aktionsplan aufgelegt. Es geht auch für uns darum, einen Beitrag zu menschenwürdigen Arbeitsbedingungen zu leisten; und zwar entlang der gesamten internationalen Lieferketten.

Wir haben uns im Rahmen der G7 sehr intensiv mit Bangladesch und den schrecklichen Leiden von Textilarbeiterinnen befasst. Wir haben in diesem Zusammenhang den sogenannten „Vision Zero Fonds“ aufgelegt, um erst einmal das international versprochene Geld für Absicherungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einzusammeln. Das ist in Bezug auf die G7 schon eine ziemliche Anstrengung; und manchmal muss man sich fast schämen, wie leichtfertig manche Versprechen gemacht werden und wie schwierig dann die Umsetzung ist. Wir setzen die Bemühungen um die Auffüllung dieses Fonds jetzt auch in der G20-Präsidentschaft fort. Wir werben auch für Mechanismen, die es Arbeitnehmern ermöglichen oder erleichtern, sich über schlechte Arbeitsbedingungen zu beschweren. Wir wissen darüber ja oft gar nicht genau Bescheid. Transparenz aber ist hierbei sehr wichtig.

Ob eine Arbeit als gute Arbeit angesehen werden kann, hängt natürlich auch von der Lohnhöhe ab. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich auch für viele private Initiativen für Tarifverhandlungen entlang von Lieferketten bedanken. Ich kann sagen: In Deutschland haben wir mit Tarifverhandlungen gute Erfahrungen gemacht. Erstens muss sich die Politik nicht in alles einmischen; das ist schon einmal ein Vorteil. Zweitens kracht es in den Tarifverhandlungen zwar manchmal, aber unsere Erfahrung ist, dass auch eine gemeinsame Verantwortung wächst, weil auch auf Arbeitnehmerseite entschieden werden muss: Was ist uns wichtig? Ist uns zum Beispiel auch Qualifizierung wichtig? Was ist uns mit Blick auf die Ausbildung junger Menschen wichtig? Denken wir nur an die Beschäftigten, die wir heute haben, oder ist uns auch die Zukunft wichtig? So haben die Tarifverträge in den vergangenen Jahren deutlich an Vielfalt gewonnen. Wir haben gerade auch während der Krise im Euroraum gesehen, dass die Bereitschaft seitens der Gewerkschaften, Verantwortung zu übernehmen, gar nicht überall so selbstverständlich ist, wie wir es in Deutschland eigentlich kennen.

Ein großes Problem für Gewerkschaften ist natürlich auch die Frage: Wie helfen wir denen, die keine Arbeit haben; wie können wir sie in den Arbeitsmarkt integrieren? Wir wissen: das Thema Bildung und Ausbildung wird immer wichtiger. Wir in Deutschland haben ein duales Ausbildungssystem, das wir aber auch immer wieder stärken müssen. Den Master-Titel kann man ohne Gebühren erwerben, für den Meister-Titel muss man noch bezahlen, selbst wenn man BAföG-Leistungen erhält. Ob das eigentlich gerecht ist, ist auch ein Thema, dem sich, denke ich, alle Parteien zunehmend widmen. Wir müssen auch schauen, dass die neuen Berufsbilder der Digitalisierung auch im Bereich der Berufsausbildung angeboten werden und nicht nur in Studiengängen. Denn die Praxisnähe der dualen Berufsausbildung ist und bleibt sehr wichtig.

Wir haben in Deutschland eine spezielle Aufgabe: die Integration der vielen zu uns gekommenen Flüchtlinge auch in den Arbeitsmarkt. Wir denken dabei sowohl an die Integration im Aufnahmestaat als auch an die vielleicht eines Tages erforderliche Reintegration im Herkunftsstaat, wenn zum Beispiel im Irak der IS besiegt ist oder wenn Syrien wieder befriedet ist und sich deshalb wieder neue Situationen ergeben. Wir denken, dass Integration ein zentraler Bestandteil ist. Dabei geht es auch um Bildung: um Sprachbildung, aber auch um Berufsbildung.

Das Thema der Verbesserung der Arbeitsmarktchancen von Frauen beschäftigt uns auch sehr. Die G20 hat in Brisbane zum ersten Mal ein spezifisches Ziel entwickelt, nämlich die Lücke zwischen der Beschäftigung von Frauen und Männern bis 2025 um 25 Prozent zu reduzieren. Das betrifft auch die globale Agenda 2030, in der die Situation von Frauen ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Vor drei Wochen haben wir das G20-Dialogforum Frauen gehabt. Schon am zweiten Tag dieses Dialogforums sagten die Frauen: Wir sind sowohl bei der Wirtschaft als auch bei den Gewerkschaften eingeladen, mit dabei zu sein und mitzudiskutieren. Das hielt ich für eine sehr gute Sache. Wir haben auf diesem Dialogforum unter anderem gesagt: Wir wollen den Zugang zu Krediten gerade auch für Unternehmerinnen in Entwicklungsländern verbessern – wir arbeiten zusammen mit der Weltbank noch an einem Fonds hierzu – und wir müssen die digitalen Kompetenzen von Frauen stärken. Hierbei geht es erst einmal darum, dass Frauen Interesse daran haben. Aber dann geht es eben auch um den Zugang zu digitaler Bildung.

Meine Damen und Herren, Sie alle sind viel näher an der Praxis als ich, wenn es um die Probleme in der Arbeitswelt geht. Deshalb haben wir gesagt: Wir halten hier nicht nur zwei Vorträge – einen von Herrn Hoffmann an mich und einen von mir an Sie –, sondern wir diskutieren auch miteinander. Letztendlich geht es um ein gutes Leben überall auf der Welt. Wir in Deutschland fühlen uns dafür verantwortlich, dass wir nicht ein Leben auf Kosten anderer führen, sondern dass wir uns als eine gemeinsame Welt begreifen, in der es Frieden nur geben wird, wenn wir auch die Situation aller im Blick haben. Deshalb bin ich gespannt auf Ihre Empfehlungen, auf das, was Sie mir sagen wollen, und auf das, was wir jetzt diskutieren werden.

Herzlichen Dank dafür, dass ich bei Ihnen sein darf, und herzlichen Dank für Ihre Arbeit.